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»Ich treffe mich heute mit deinem Vater«, sagte Birdie eines Morgens, als wir im Waschsalon standen und die Trockner mit Radley-Bettzeug beluden. Es war ein Zeichen ihrer vollständigen Integration in die Familie, dass sie jetzt den vollen Anteil des Dienstplans übernahm. Ich war über die Neuigkeit ein wenig erstaunt. Birdie hatte zwar schon seit einiger Zeit Andeutungen in diese Richtung gemacht, und ich hatte mir vage vorgestellt, ein Treffen zu arrangieren, aber nichts dergleichen unternommen. Ich hatte das Thema Vater gegenüber nicht einmal angeschnitten. Ich nehme an, ich war stellvertretend für ihn nervös, dass sie sich nicht verstehen würden oder, was wahrscheinlicher war, sich nichts zu sagen hätten. Aber es muss auch ein wenig Eifersucht dabei gewesen sein, denn mein Beschützerinstinkt Birdie gegenüber verschwand nahezu augenblicklich, als sie sagte, sie würde sich mit ihm treffen. Ich fühlte mich hintergangen.
»Wie habt ihr das arrangiert?« Ohne mich, fragte ich.
»Ich habe ihm ein paar Zeilen geschrieben, und er hat zurückgeschrieben, dass ich ihn zu einer bestimmten Zeit anrufen soll, und wir haben uns am Telefon ein bisschen unterhalten, und er sagte, wir könnten uns heute Nachmittag in der Central Library treffen.«
Typisch Vater. Nur er konnte solch ein potenziell riskantes Treffen in einer Bücherei arrangieren, wo man sich unmöglich in Ruhe unterhalten konnte. Birdie muss meine Gedanken gelesen haben, denn sie fuhr fort: »Wir treffen uns nur dort, weil wir es beide kennen. Wir gehen dann in ein Café oder so was. Er konnte ja schlecht zu mir nach Hause kommen, und er sagte, seine Wohnung sei für Besucher ungeeignet.«
»Du wirst ihn erkennen, denn er sieht aus wie wir«, sagte ich. »Und er wird einen Tweedhut tragen, egal wie das Wetter ist.«
Ich hatte große Lust, dieses bizarre Treffen heimlich zu beobachten, aber natürlich tat ich es nicht. Besonders ärgerlich war, dass ich meine Informationen nur von Birdie bekommen würde. Ich war nicht fähig, Vater anzurufen und ganz nebenbei zu fragen, wie es gelaufen war. Wenn es um das Wiedergeben von Details ging, war er sowieso hoffnungslos; alles, was ich aus ihm herauskriegen würde, wären einsilbige Antworten.
Stattdessen besuchten Rad und ich Auntie Mim im Krankenhaus. Mr. Radley, der sie zu meiner Überraschung jeden Tag besuchte, hatte uns gesagt, dass sie nicht gut aussah. Sie hatte jede Nahrung verweigert und wurde jetzt durch einen Schlauch ernährt, den sie ständig herauszureißen versuchte. »Das wird sie an ihre Jugend erinnern«, sagte Mr. Radley. »Sie war eine Suffragette.«
Wir kauften im Foyershop ein paar Blumen, und ich erstand eine Ausgabe der Zeitschrift Country Living. Das brachte meine Mutter ihren Bekannten immer ins Krankenhaus mit, wahrscheinlich weil sie glaubte, dass Bilder von edlen Möbeln und schön angelegten Gärten die Patienten von ihrer bedrückenden Umgebung ablenkten. Oder vielleicht auch, dass Neid ein Ansporn zur Genesung war, ich weiß es nicht.
»Wir können ihr nicht mal Trauben mitbringen«, sagte Rad.
Wir liefen durch die labyrinthähnlichen Korridore, wobei unsere Schuhe auf dem Vinyl quietschten. Auf der Feltham Station, wo wir sie vorzufinden erwartet hatten, war das Bett abgezogen und leer. Wir wechselten einen beunruhigten Blick und gingen zu dem Schreibtisch, an dem eine Krankenschwester saß und einen Stundenzettel ausfüllte.
»Sie ist auf die Fairfax 2 verlegt worden«, sagte sie und deutete ruckartig mit ihrem Kuli in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Eine weitere halbe Meile aus Korridoren führte uns aus dem modernen Block heraus, durch einen überdachten Fußweg in die alten Gebäude, die schon mehrmals für abbruchreif erklärt worden und dann doch verschont geblieben waren. Der Boden hob und senkte sich wie eine Berg-und-Tal-Bahn, die Türen bestanden nur aus dicken Plastiklappen, staubige Rohre kletterten über die Wände wie Rebengewächse, und das gesamte Gebäude wirkte so baufällig und vernachlässigt, dass die Aussicht auf Genesung dort sehr abwegig erschien.
Fairfax 2 war eine geriatrische Frauenabteilung mit sechs Betten. Rad nickte der Schwester zu und zuckte mit dem Blumenstrauß, um anzudeuten, dass wir Besucher waren. »Da ist sie«, sagte er und näherte sich einem Bett, in dem eine winzige, geschrumpfte alte Frau saß und mit offenem Mund schlief. Auf dem Nachttisch lagen ein Früchtekorb und eine offene Packung Kekse.
»Ich glaube nicht, dass sie es ist«, sagte ich.
»Nicht?«
Wir betrachteten die Insassen der anderen Betten. In Krankenhausnachthemden, ungeschminkt, weiß, das einst gefärbte Haar jetzt schlapp und glatt und mit papierartiger Haut, die von den Wangenknochen bis zum Kiefer herunterhing, sahen sie alle gleich aus. Jede oder keine von ihnen hätte Auntie Mim sein können. Entmutigt gingen wir zu der Krankenschwester zurück.
»Wir suchen Mrs. Smith«, sagte Rad.
Die Krankenschwester brachte uns zu einem kleineren Nebenzimmer, in dem nur drei Betten standen. Unsere Erleichterung, Auntie Mim endlich zu erkennen, wurde durch die Bestürzung über die Umgebung und ihren Zustand etwas gemindert. Selbst die Mindestanforderungen an Sauberkeit und Hygiene schienen aufgegeben worden zu sein: Auf dem Boden lagen Staubknäuel, Fusseln und getrocknete Tropfen von Gott weiß was. Die Fenster waren verschmiert, und die Vorhänge waren in einem jämmerlichen Zustand. Auf Auntie Mims Stuhl lag ein Haufen benutzter Taschentücher, und auf dem Wagen am Fuße ihres Bettes war eine schmutzige Bettpfanne zurückgelassen worden. Die Patientin selbst sah äußerst schlecht aus. Aus ihrer Nase ragte ein Schlauch, der an ihrer Oberlippe festgeklebt war, und an ihrer Hand, die vom Handgelenk bis zu den Fingerknöcheln blaue Flecken hatte, hing ein Tropf. Ein weiterer Schlauch führte zu einem Plastikbeutel, der halb voll mit einer klaren, rötlichen Flüssigkeit war. Mein Magen drehte sich um, und ich vergrub das Gesicht in den glänzenden, parfümierten Seiten von Country Living. Streng geschnittene Hecken, gelbe Tapeten, Toiles de Jouy, ich blätterte fieberhaft weiter, Gieves & Hawkes, William Morris, Sissinghurst, Quiltdecken, schon besser.
»Sie schläft«, sagte Rad. »Wir sollten noch ein bisschen warten, ob sie aufwacht. Bist du gut im Arrangieren von Blumen?«, fragte er und überreichte mir die Nelken. Auf dem Nachttisch stand eine schmale Vase mit einem welkenden Sträußchen aus Glockenblumen, Gänseblümchen und anderen Blumen, die in den Vorgärten der ans Krankenhaus angrenzenden Häuser zu finden waren: Ein Geschenk von Mr. Radley. Ich nahm sie heraus und stopfte unsere eigene Gabe in das trübe Wasser. Uns war offensichtlich ein Ladenhüter verkauft worden, denn die meisten Blumen hatten geknickte Stiele und ließen die Köpfe hängen, wodurch die wenigen anderen hoch standen wie Zaunpfähle.
»Sehr hübsch«, sagte Rad.
Wir lungerten etwa eine halbe Stunde lang am Bett herum, bevor wir aufgaben. Rad war ebenso erleichtert wie ich, dass sie nicht aufgewacht war, das spürte ich genau. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren leises Schnarchen und das Kratzen eines Füllers, während die Schwester sich mit ihrer Schreibarbeit quälte. Und irgendwo in der Ferne das Brummen eines Bohnergeräts.
»Glaubst du, sie gehen manchmal herum und schauen nach, wer noch lebt?«, fragte ich.
Die Frau im Bett gegenüber, die wie alle anderen Patientinnen offensichtlich vor sich hin dämmerte, fing an zu stöhnen, als hätte sie große Schmerzen. Die Krankenschwester blickte kurz auf und schrieb weiter. Zum Abschied stellte Rad ihr die benutzte Bettpfanne auf den Schreibtisch und wurde dafür mit einem kalten Blick und einem bissigen »Danke« belohnt.
»Wir kommen ein andermal wieder«, sagte Rad nicht sehr begeistert zu mir, als wir endlich durch die automatischen Türen traten und frische Luft atmeten.
»O ja«, sagte ich zustimmend.
»Wie habt ihr euch denn verstanden?«, fragte ich Birdie an diesem Abend.
»Gut. Wir haben uns sofort erkannt. Ich hätte ihn auch erkannt, wenn du mir nichts von dem Hut gesagt hättest.«
»Worüber habt ihr gesprochen?«
»Ach, er hat mich gefragt, was meine Hauptfächer sind und was ich später studieren will. Über die Vergangenheit haben wir überhaupt nicht gesprochen. Er hat nicht mal richtig zugegeben, dass er mein Dad ist: Es war ein bisschen, wie einen lange verloren geglaubten Paten zu treffen. Irgendwann sagte er, er würde sich wirklich freuen, mich endlich kennen gelernt zu haben, und er wäre froh, dass ich mich so gut entwickelt habe. Aber ich merkte, dass es gleich emotional würde, deshalb habe ich ihn abgelenkt. Er hat gefragt, wie es Mum ginge, und ich sagte nur: ›Gut‹, und er sagte: ›Schön, schön‹, und damit war das Thema erledigt.«
»Und worüber habt ihr noch gesprochen?«
»Hauptsächlich über Bücher. Er wollte wissen, was ich lese, und ich sagte Virginia Woolf, und er verzog das Gesicht, und wir hatten einen kleinen Disput darüber, ob sie ein Genie war, und dann sagte er, ich sollte Gibbon lesen. Wer immer das ist.«
»Das ist seine Antwort auf alles«, sagte ich.
»Ich komme nur nicht dahinter, wie er und meine Mum je zusammen gekommen sind. Sie sind so verschieden. Ich meine, er ist so süß und altmodisch.« Ich wollte gerade zustimmen - sogar ein paar eigene Anekdoten einwerfen als sie hinzufügte: »Wie du.«
»Glaubst du, dass ihr euch wieder sehen werdet?«, fragte ich, als würden wir uns über eine heiße Verabredung vom Abend zuvor unterhalten. Ich wollte nicht über meine Erleichterung nachdenken, als sie sagte: »Wir haben nichts verabredet. Ich frage mich immer noch, wie ich es Mum beibringen soll und ob überhaupt. Sie wird es früher oder später sowieso herausfinden; mir rutscht es bestimmt irgendwann raus.«
»Wird es ihr was ausmachen?«
»Ich weiß nicht. Es wird ihr nicht gefallen, dass ich sie hintergangen habe.«
»Das Gefühl kenne ich«, sagte ich.
Im Gegenzug erzählte ich ihr von unserem Nachmittag im Krankenhaus. Sie wurde ziemlich blass. »Ich will nicht alt werden«, sagte sie erschaudernd. »Ich will es einfach nicht.«